Dienstag, 23. Juli 2013

Spieglein, Spieglein an der Wand

In einer Arbeit von Klaus Rettig (Emden) aus dem Jahr 1982 las ich von der Beobachtung eines einzelnen Spiegelfleck-Dickkopffalters in einem Moor bei Ihlow (Kreis Aurich). Diese in Norddeutschland und auch ganz allgemein sehr lückenhaft verbreitete und eher seltene Art hatte ich in meinem Leben bislang nur ein einziges Mal gesehen. Seinerzeit bin ich extra ihretwegen von Bramsche (Kreis Osnabrück) ins Oppenweher Moor (Kreis Minden-Lübbecke) gefahren, um ein paar geile Fotos zu machen.

Large Chequered Skipper

Wenn dieser Falter in Ihlow beobachtet worden ist, so dachte ich, dann sollte es auch noch Vorkommen in einem der zahlreichen Moore im Zentrum Ostfrieslands geben, wenngleich ich selbst im Berumerfehner Moor sowie in weiteren Mooren bei Aurich nie das Glück gehabt hatte, einem dieser hübschen Falter zu begegnen. Doch irgendwo muss dieses Tier ja hergekommen sein! Auf der anderen Seite sind seit dieser Feststellung etwa dreißig Jahre vergangen, eine mögliche Population konnte natürlich auch längst erloschen sein.

Trotzdem rief ich kurzerhand Klaus Rettig an, der mir aber zunächst keine großen Hoffnungen machen konnte, denn die Beobachtung bei Ihlow sei eine einmalige Ausnahme gewesen. Doch dann meinte er, der Spiegelfleck komme in diversen Mooren bei Wiesmoor vor, wenigstens sei das noch vor ein paar Jahren der Fall gewesen. 

Ich missbrauchte einen eigentlich für ornithologische Zwecke eingerichteten regionalen Mail-Verteiler (OVO-News), um mir Klarheit zu verschaffen. Nur eine einzige Nachricht ging daraufhin bei mir ein: Dieter Wensel (Wiesmoor) machte mir glaubhaft, dem Schmetterling noch nie in einem der Moore um seinen Wohnort herum begegnet zu sein. Ich war, das will ich zugeben, sehr enttäuscht, schrieb ihm aber noch schnell einige wichtige Merkmale dieses Falters, hoffend, er würde ihm doch noch begegnen.

Ich hatte die Angelegenheit längst aufgegeben, ja vergessen sogar, als Wochen später eine weitere Mail von Dieter Wensel bei mir eintrudelte. Eine darin angehängte Datei war nichts anderes als ein Foto von dem von mir so begehrten Spiegelfleck, aufgenommen am selben Tag im Landschaftsschutzgebiet Ottermeer bei Wiesmoor!

Bingo, dachte ich wie elektrisiert und rief sofort bei Dieter Wensel an. Wir verabredeten uns für den vergangenen Freitag (19.7.) am Ottermeer. Direkt von der Arbeit aus machte ich mich auf den Weg, steuerte zunächst aber noch das an meiner Strecke und nur wenige Kilometer vom Ottermeer entfernt liegende Collrunger Moor (Stadt Aurich, ein Teil des Moores liegt aber auch im angrenzenden Kreis Wittmund) an, weil ich ahnte, dass dieser Tag etwas ganz Besonderes für mich bereithalten würde. Ich parkte meinen Wagen vor der Schranke, stieg aus, sah als ersten Schmetterling einen C-Falter und als zweiten einen Spiegelfleck, ohne die Schranke überhaupt passiert zu haben.

Noch bevor ich nach Wiesmoor fuhr, konnte ich also nach so vielen Jahren die ersten Aufnahmen von dieser Art machen (siehe erstes Bild dieses Beitrags). Anschließend, nachdem ich den Damm durchs Moor einmal auf- und abgegangen war und sage und schreibe dreißig Individuen dieses Falters gezählt hatte, fuhr ich zum Ottermeer, doch aufgrund eines Missverständnisses verpassten Dieter Wensel und ich einander um wenige Minuten. Nach einer einstündigen Wartezeit, die mir auch dort einen einzelnen Spiegelfleck einbrachte, ging es für mich also zurück zum Collrunger Moor.

Ich blieb ein paar Stunden, wartete bis zum späten Abend, um herauszufinden, wo die Tiere die Nacht verbringen. Dann fuhr ich zurück nach Emden, um nach nur wenigen Stunden Schlaf ins Moor zurückzukehren. Doch wettermäßig war das eher eine Enttäuschung, denn nach den klaren und sehr warmen Tagen der vergangenen Woche war es am Freitagabend zugezogen, bei meiner Ankunft entsprechend finster. Trotzdem konnte ich schnell ein paar Individuen finden, die sich an die Halme des Pfeifengrases klammerten. Und als das Licht es endlich zuließ, folgten weitere Aufnahmen:



Ein weiteres Tier:

Ich machte noch ein paar Bilder von der blühenden Glockenheide:

Cross-leaved Heath

Das sollte es auch erst einmal gewesen sein, denn so ganz ohne Tau war das einfach nicht nach meinem Geschmack. Doch in meinen Gedanken war ich bereits einen Tag weiter. Denn die Sonne sollte am Nachmittag des Samstags zurückkehren; eine Nacht mit geringeren Temperaturen und als Folge davon mit sehr viel Tau würde mir schließlich die Voraussetzungen schaffen, die ich dringend benötigte, um die in meinem Hirn längst fertiggestellten Bilder in die Tat umzusetzen.

So kam es dann auch! Schnell fand ich einige schlafende Falter, doch zunächst knipste ich den blühenden Gewöhnlichen Gilbweiderich:





Yellow Loosestrife

Ich entdeckte einige Zarte Rubinjungfern:

Small Red Damselfly

Und wirklich überall hingen Schwarze Heidelibellen im Pfeifengras herum wie Lametta am Christbaum - nur eben schöner:

Black Darter

Vor allem Kranich, Turteltaube, einige Limikolen wie Dunkler Wasserläufer und Rotschenkel sorgten für die akustische Untermalung. Über den Blänken waberte etwas Nebel, ansonsten aber war es kristallklar. Und es war windstill. Nach nur wenigen Metern war meine Hose so nass wie nach einer Wäsche ohne Schleudergang. Noch mehr Tau konnte es nicht geben. Wenn man die hartnäckigen Mücken ignorierte, passte einfach alles. Es war ein geradezu berauschender Morgen, der nichts zu wünschen übrig ließ. 

Eine weitere Schwarze Heidelibelle:


Und ein erster Spiegelfleck!

Es war witzig, aber wie so viele Kleinlibellen es auch machen, drehten sich einige der Falter von mir weg, auf die Rückseite des Halmes, doch fand ich auch welche, die einfach alles über sich ergehen ließen:

Und noch einer:

Ein weiterer:

Ich musste meine Schritte mit Bedacht setzen, weil ständig mal große, mal keine Moorfrösche meinen Weg kreuzten und durchs taunasse Pfeifengras hüpften, aber fotografiert habe ich keinen einzigen. Vor allem deshalb, weil die Zeit einem davonrennt, weil die Fotografie am frühen Morgen nichts anderes ist als ein Wettlauf mit der Sonne, denn die schönsten Bilder macht man vor Sonnenaufgang!

Ist sie dann oberhalb des Horizontes aufgetaucht, wird das Licht schnell viel zu grell, der Tau verschwindet rasch und die heftigen Schatten wirken sich negativ auf den Hintergrund des Bildes aus.

Hier wieder eine Schwarze Heidelibelle:

Unmittelbar daneben gleich eine weitere:



Die Zarte Rubinjungfer erreicht übrigens im Westen Niedersachsens den Ostrand ihres westeuropäischen Areals. Im Landkreis Osnabrück kannte ich sie nur aus dem Bereich Hahnenmoor/Börsteler Wald:

Die Sonne war inzwischen aufgegangen, doch die Bereiche, in denen sich die Falter aufhielten, lagen noch eine ganze Weile im Schatten. Bis auf eine Ausnahme fand ich nämlich alle Individuen auf der auf diesem Bild rechten Seite des Weges. Im Hintergrund, am Ende des Tunnels, kann man soeben meine Karre erkennen. Auch das Stück des Weges, das dorthin und durch das Wäldchen führt, wird von den Tieren am Tage beflogen:


Weitere Landschaftsaufnahmen:

Märchenhaft, oder?


Die meisten Menschen werden so etwas nicht ein einziges Mal in ihrem Leben sehen:

Und das ist auch gut so, denn sonst bekäme man an Orten wie diesem keinen Fuß mehr auf den Boden:

Glockenheide:

Ein junger Faulbaum:

Alder Buckthorn

Und irgendwann erreichten die ersten zaghaften Sonnenstrahlen auch die Falter:

In meiner Auricher Zeit, immerhin waren das drei Jahre, bin ich oft im Collrunger Moor gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich den Spiegelfleck einfach übersehen habe. Er fliegt in seinem einmaligen Stil, ständig geht es jojomäßig auf und ab, in etwa einem Meter Höhe den Damm entlang, sieht darüber hinaus auch aus der Distanz wie kein anderer in Deutschland vorkommender Schmetterling aus. Zwar ist er kaum größer als die häufigen Dickkopffalter-Arten aus den Gattungen Thymelicus und Ochlodes, aber diese sind leuchtend orange und sie fliegen eben auch anders. Das Flugverhalten des Spiegelflecks wird übrigens im englischen Wikipedia ganz witzig umschrieben (sinngemäß): "Fliegt, als wäre er betrunken, etwas wirr und ungerichtet..."

Ich kann es mir nur so erklären: Offenbar bin ich nie zur sehr kurzen Flugzeit des Spiegelflecks im Collrunger Moor gewesen. Ab Ende Juni bis etwa Ende Juli, also nur etwa einen Monat lang, ist diese Art als Falter unterwegs. Den Rest des Jahres verbringt sie als Raupe und Puppe. Die Flugzeit dieses Falters deckt sich genau mit jener Zeit, in der das Auftreten blutrünstiger Bremsen einen Besuch im Moor zu einer Tortur werden lässt.

Die Raupen des Spiegelflecks ernähren sich übrigens von nur wenigen verschiedenen Gräsern. Im Collrunger Moor dürfte das dominierende Blaue Pfeifengras als Futterpflanze fungieren.

Die Falter selbst sah ich vor allem an den Blüten der Vogelwicke saugen, die aber nur am Rande des Moores, im Bereich der Schranke, wächst:

Cow Vetch

Erst nach Sonnenaufgang öffnet der Spiegelfleck seine Flügel, gibt dann die unauffällige, beinahe enttäuschend langweilige Oberseite preis:



Die Unterseite im Gegenlicht:

Auch ein Spiegelfleck erkauft sich gleichzeitig mit seiner Geburt den sicheren Tod. Kurz bevor ich meinen Wagen erreichte, musste ich das zur Kenntnis nehmen:

Um welche Spinne es sich handelt, vermag ich nicht zu sagen.

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Falter im ganzen Land?

Grundsätzlich neigen wir dazu, jene Arten als besonders hübsch zu empfinden, die nicht so häufig sind. Doch wer wollte etwa dem Kleinen Fuchs - nach wie vor ist er eine Allerweltsart - absprechen, schön und bunt gezeichnet und gefärbt zu sein? Viele Tagfalter, aber auch nicht wenige Nachtfalter, können mit prächtigen Farben und Mustern aufwarten. Und der Spiegelfleck-Dickkopffalter ist da eben nur eine weitere.

Das Empfinden für Schönheit unterliegt dem subjektiven Geschmack und der Betrachtungsweise des Einzelnen. Ich überlasse es jedem selbst, was er daraus macht.

Die Verantwortung für diesen Beitrag, das ist jetzt einfach mal so, trägt kein anderer als Klaus Rettig, denn er war es, der mir einfach so eine seiner Arbeiten über das Auftreten einiger Schmetterlinge in Ostfriesland in den Briefkasten warf. Und darüber hinaus war er derjenige, der mir den entscheidenden Wink mit Wiesmoor gab. Und wenn Dieter Wensel mir nicht die brandaktuellen Bilder von einem Spiegelfleck am Ottermeer geschickt hätte, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, das flatternde Kleinod auch einfach mal im Collrunger Moor zu suchen.

Ich möchte mich bei den beiden Naturbegeisterten ganz lieb bedanken!

Nachtrag vom 31.7.:  Gestern bekam ich erneut eine Mail von Dieter Wensel, darin enthalten eine weitere Überraschung!

Aus der Mail: "...ich bin es schon wieder, aber ich habe gerade (vor 15 min), als ich meinen Müll rausbringen wollte, in meinem Garten eine Überraschung erlebt: 2 Meter hinter der Tür saß ein Falter an der Wand. Ich dachte im ersten Moment: "Eine Fata Morgana" oder: "Habe ich mir zu lange Ihre Fotos angesehen?" Aber nein, es war wirklich ein Spiegelfleck (s. Anhang). Das "LSG Ottermeer" ist ca. 2 km Luftlinie von meinem Haus entfernt, das "NSG Klinge" ca. 4 km. Was will er bei mir? Hat er Ihre Blogüberschrift gelesen? Kann es sein, dass er sich zum Sterben so weit verflogen hat, um sich ein ruhiges Plätzchen dafür zu suchen? Ich habe zwar einen kleinen ziemlich zugewachsenen Gartenteich mit allerlei Blühpflanzen aber kein Pfeifengras. Oder gibt es in diesem Jahr so viele Spiegelfleck-Dickkopffalter (Populationsdruck?), dass sie ausweichen müssen? Vielleicht haben Sie ja eine Idee!?!"

Nein, eine Idee habe ich nicht. Mir fehlen die Worte.

Der Anhang:
































Large Chequered Skipper visiting Dieter Wensel's garden (Foto: Dieter Wensel/Wiesmoor)